Historikertag 2023: Zeitgeschichte

Von
Stephanie Zloch, Institut für Geschichte, Technische Universität Dresden

Besprochene Sektionen:

Industriell gefertigte Fakten? Wissens- und Evidenzfragen in den Energie- und Umweltdiskussionen der 1970er und 1980er Jahre

Qualifikationen (er)messen. Bildung und Arbeit im 20. Jahrhundert

Sanktionsregime: Entstehung, Praktiken und Wirkung

Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von der Stabilität zurück zur Fluidität der Staatsgrenzen – europäische Geschichte als Scherbenhaufen

Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen

Die Zeitgeschichte nimmt mittlerweile einen sehr großen Raum auf den Historikertagen ein. In Leipzig hat das Organisationskomitee allein 29 Sektionen mit der entsprechenden epochalen Zuordnung versehen. Es wäre vermessen, an dieser Stelle sämtliche verhandelten Themen und Schwerpunktsetzungen abdecken zu wollen. Im Zentrum des Berichts soll vielmehr ein für die Zeitgeschichte konstitutives epistemologisches Spannungsverhältnis stehen: Einerseits folgt die Forschung, wie diejenige zu früheren Epochen auch, längerfristigen thematischen Trends, widmet sich konzeptionellen und methodischen Debatten, einer sorgfältigen Quellenanalyse und oft auch dem theoriegeleiteten interdisziplinären Austausch. Andererseits ist die Zeitgeschichtsforschung angesichts aktueller Krisendynamiken in besonderem Maße nachgefragt, wenn es um eine rasch zur Verfügung stehende Expertise geht, die zur politischen Entscheidungsfindung oder zur Positionsbildung in der öffentlichen Diskussion beitragen soll. Das Wagnis besteht dann oft genug darin, sich auch ohne elaborierten Forschungsstand und breit abgesicherte methodische Debatte zu äußern. Nicht selten können aus solchen aktuellen Nachfragen aber Anstöße zur weiteren wissenschaftlichen Beschäftigung hervorgehen.

Ein Beispiel für die längeren Linien einer Forschungsdiskussion stellte die von STEFAN ESSELBORN (München) und ODINN MELSTED (Maastricht) geleitete Sektion „Industriell gefertigte Fakten? Wissens- und Evidenzfragen in den Energie- und Umweltdiskussionen der 1970er und 1980er Jahre“ dar. Ursprünglich ging der disziplinäre Ansatz der Umweltgeschichte mit seiner Entstehung in den 1970er-Jahren selbst auf eine Krisenwahrnehmung zurück, die aber in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft derzeit etwas „erkaltet“ scheint; so gingen die Vorträge und Diskussionen in dieser Sektion nur recht zurückhaltend auf tagespolitische Diskussionen um Energieversorgung und Klimawandel ein. Im Vordergrund stand vielmehr der seit gut zwei Jahrzehnten florierende Ansatz der Wissensgeschichte. Die Frage nach der Wissensproduktion, die sich bisher bevorzugt auf das „alternative Wissen“ oder „Gegenwissen“ der Umweltbewegung konzentriert hatte, wendeten die Vortragenden der Sektion nun auf eine provokante und innovative Weise, indem sie ihren Blick auf Wissensakteure in Wirtschaftsunternehmen, Ministerien und weiteren politischen Gremien richteten.

STEFAN ESSELBORN vertrat die These, dass die von der Atomindustrie beauftragten Risikostudien in den 1960er- bis 1980er-Jahren ein probabilistisches Prognosewissen produzierten, das in der bundesdeutschen Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar gewesen sei und dazu geführt habe, dass die Atom-Befürworter daraus keine Deutungshoheit ableiten konnten; zudem bewerteten die Risikostudien die Frage nach der Wirtschaftlichkeit von Atomkraft durchaus kontrovers. ODINN MELSTED arbeitete in seinem Vortrag zum Ressourcen- und Klimawissen der internationalen Ölindustrie sogar heraus, dass in der Zeitspanne zwischen dem so genannten Ölpreis-Schock 1973 und dem Gegenschock des Ölpreis-Sturzes 1986 ein verbreitetes Nachdenken über Unsicherheiten und Umweltprobleme in der Ölindustrie eingesetzt habe, das sich mit Überlegungen zum Umgang mit einer kritischen Öffentlichkeit gepaart habe. LAURA KAISER (Potsdam) berichtete vom Sachverständigenrat für Umweltfragen, der 1971 von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher eingerichtet wurde und dessen Vorsitzender Karl-Heinrich Hansmeyer als Finanzökonom soziale und wirtschaftliche Kosten der Umweltverschmutzung diskutieren ließ. Dies könne als Versuch gewertet werden, in Umweltfragen eine Deutungshoheit ökonomischen Wissens gegenüber einer vermeintlich emotionsgeleiteten öffentlichen Debatte zu etablieren. SÖNKE HEBING (Aachen) verglich die unternehmerische Zukunftsforschung des Rückversicherers Munich Re und des Automobilkonzerns Bayerische Motorenwerke (BMW) in den 1980er-Jahren. Das Selbstverständnis der Munich Re als Informationsdienstleister mit einer potenziell globalen Perspektive stellte er dabei in Kontrast zum politischen Gestaltungsanspruch von BMW, die automobile Gesellschaft in Deutschland in die Zukunft zu retten. In ihrem kommentierenden Vortrag warf ELKE SEEFRIED (Aachen) wichtige Grundsatzfragen auf: So sei das ökonomische Wissen der Energieunternehmen und der umweltpolitischen Gremien in erster Linie im Kontext von Neoliberalismus, Privatisierung oder Vermarktlichung gezeichnet worden; dieses Wissen könne aber durchaus auch wohlfahrtsstaatlich und ökologisch grundiert sein. In jedem Fall sei das Idealbild einer von Interessen und politischen Einflüssen „reinen“ Wissenschaft aufzubrechen, zumal es auch nicht mit den allgemeinen Erkenntnissen der Wissensgeschichte übereinstimme. Wenn von einer Vielschichtigkeit des ökonomischen Wissens auszugehen sei, das auch Elemente eines „Gegenwissens“ aufnehme, dann sei zugleich kritisch zu fragen, welche Perspektiven es für eine „Ökologisierung“ der Industrie gebe, die über ein „Greenwashing“ hinausgehe.

In der Sektionsdiskussion gerieten Leitbegriffe wie Risiko, das Konzept eines qualitativen Wachstums oder die Historisierung von Ulrich Becks „reflexiver Modernisierung“ in den Blick. Darüber hinaus mehrten sich Stimmen, dass Emotionen in den Umweltdiskussionen eine größere Rolle spielten als dies im Titel und in der Einleitung der Sektion anklang; so sei Planungseuphorie ebenso emotional begründet wie die Bestrebungen in Industrie und Politik, ein eigenes Wissen gegenüber der Umweltbewegung zu produzieren und zu behaupten. Nicht zuletzt sei kritisch zu prüfen, ob das Reden von einer emotional bewegten Öffentlichkeit eine Quellenaussage oder das Ergebnis historischer Analyse darstelle. Nur kurz angerissen wurde in der Diskussion die Frage, wie es sich mit der Rezeption dieses „industriell gefertigten“ Umweltwissens auf europäischer und globaler Ebene verhielt. Der Zusammenhang mit dem (Neu-)Einsetzen der so genannten Globalisierung und der Verdichtung von Mobilität seit den 1970er-Jahren verdient allerdings eine Vertiefung in künftigen Forschungen. Insgesamt bot die Sektion auch ohne ausformulierten Gegenwartsbezug viele Anregungen, um heutige Problemlagen neu zu durchdenken und damit im besten Sinne zeithistorische Grundlagenforschung für die Jahre „nach dem Boom“ zu leisten.

Bildung ist ein zweites Thema, das Gesellschaft und Wissenschaft seit vielen Jahren bewegt; allerdings war die deutschsprachige Zeitgeschichtsforschung bis vor kurzem nur sporadisch damit befasst. Nun ist die disziplinäre Abgrenzung zu den bildungsbezogenen Sozialwissenschaften und zur erziehungswissenschaftlichen Historischen Bildungsforschung durchlässiger geworden, und die Aufnahme bildungsgeschichtlicher Themen in große zeithistorische Darstellungen wie etwa Lutz Raphaels „Jenseits von Kohle und Stahl“1 hat offenkundig manche noch vorhandene Distanziertheit beseitigt. In diese Forschungsdynamik schrieb sich die von FRANZISKA REHLINGHAUS (Göttingen) und BENNO NIETZEL (Frankfurt an der Oder) organisierte Sektion „Qualifikationen (er)messen. Bildung und Arbeit im 20. Jahrhundert“ ein.

Der Begriff der „Eignung“ stand im Zentrum des Vortrags von TILL KÖSSLER (Halle-Wittenberg) zur Expansion des Berufsschulwesens in der Weimarer Republik. Einerseits sollte der Staat nach dem verlorenen Krieg mittels zentraler Beratung und Eignungstests leitend in die Berufswahl eingreifen, um Deutschland zu neuer ökonomischer Kraft zu verhelfen, doch zeichnete Kössler überzeugend auch das gegenläufige Bild von der Berufsberatung als sozialer Praxis und verwies auf die eigenständigen Interessen der Jugendlichen, die auf diese Weise eine Subjektposition im Beratungsprozess eingenommen hätten. OLGA SPARSCHUH (München) zeigte am Beispiel der 1905 gegründeten „Zentralstelle für ausländisches Bildungswesen“, mit welchen Instrumentarien und Methoden ausländische Bildungsqualifikationen institutionell bewertet wurden. Dabei machte sie deutlich, über welchen Ermessensspielraum die Zentralstelle verfügt habe, der durch politische Erwägungen und vermutete Bildungshierarchien eingefärbt gewesen sei und auf diese Weise fragile Fakten erzeugt habe. FRANZISKA REHLINGHAUS sprach über das Verständnis von Bildung als „Investition“ anhand des Länderexamens der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) für die Jahre 1950 bis 1969, in dem die Bundesrepublik hinsichtlich des „Anteils der öffentlichen Bildungsausgaben am Bruttosozialprodukt“ mit der Note „mangelhaft“ abschnitten hatte.2 Die Dominanz bildungsökonomischer Konzepte sei allerdings um 1968 in die Kritik geraten, so dass die OECD auf die von Rehlinghaus attestierte multilaterale „Kausalitäts-, Zeit- und Legitimationskrise“ durch eine Neudefinition von Qualifikationen und deren Erweiterung um sogenannte soft skills reagiert habe. JAN KELLERSHOHN (Halle) verglich die Berufsbildungsreform im Braunkohlebergbau der DDR mit jener im westdeutschen Steinkohlebergbau in den 1960er- und 1970er-Jahren. In der Ausformung von anpassungsfähigen Werktätigen für die Arbeitswelt der Zukunft hätten beide Staaten mit den Leitkategorien „Disponibilität“ bzw. „Mobilität“ Signifikanten des Mangels genutzt, um die Auseinandersetzung zu strukturieren. Abschließend sprach BENNO NIETZEL über die „Requalifizierung“ der ostdeutschen Gesellschaft im Zuge des abrupten ökonomischen Strukturwandels nach der Wiedervereinigung. Dabei durchlief der Qualifizierungsbegriff nach Nietzels Einschätzung in den 1990er-Jahren selbst eine Transformation, indem er weniger als staatlich-gemeinschaftliche Herausforderung, denn als individuelle Verpflichtung angesehen worden sei. Auf diese Weise seien Schlüsselqualifikationen für den Strukturwandel dem Umstellungswillen sowie der Flexibilität der Betroffenen zugewiesen worden.

In der Sektionsdiskussion kam die Frage nach der Gerechtigkeit der vorgestellten Beratungs- und Bewertungspraktiken auf. Wie die Vortragenden übereinstimmend betonten, seien die empirisch vorgestellten Verfahren der Qualifikationsmessung demnach als historische Praktiken zu verstehen, mit denen Evidenz erzeugt werden sollte, die aber immer auch fragile Fakten lieferten. Weiterhin galt das Interesse den historischen Wissens- und Quellenbeständen über Berufe und ihre Qualifikationen und wie diese nachhaltig zugänglich gemacht werden könnten. In ihrem Ertrag wies die Sektion vielfach über ihr titelgebendes Thema hinaus und arbeitete die enge Verknüpfung von Bildungs- und Beschäftigungssystem sowie die historische Formierung von Subjekten heraus. Sie vollzog einen wichtigen Brückenschlag zur Geschichte der Arbeit und damit zu einem Kernthema der Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Räumlich und zeitlich stand zwar die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert im Mittelpunkt, doch in den Beiträgen zur Zentralstelle für ausländischen Bildungswesen und zur OECD kam auch eine transnationale und international vergleichende Perspektive zum Tragen, deren Weiterführung in künftigen Studien sehr zu begrüßen wäre.

Eine internationale Perspektive war für die Sektionen, die sowohl mittelbaren als auch unmittelbaren Bezug auf die internationale Großkrise des russischen Kriegs gegen die Ukraine seit 2014/22 nahmen, bereits sachlogisch geboten. Die von FRANK BÖSCH (Potsdam) und JAN ECKEL (Freiburg) geleitete Sektion „Sanktionsregime: Entstehung, Praktiken und Wirkung“ fand im Audimax statt, war für das Schüler:innen-Programm des Historikertags ausgeflaggt und kündete so von einer öffentlichen Relevanz, der die Sektion inhaltlich in der Tat gerecht wurde. JAN ECKEL stellte die menschenrechtliche Strafpolitik in den 1970er- und 1980er-Jahren am Beispiel des Pinochet-Regimes in Chile vor. Daran konnte er den Wandel internationaler Sanktionspolitik, die von Wirtschaftssanktionen bis zur Begrenzung von Entwicklungshilfe reichte, aufzeigen. Zugleich stellte Eckel die Sichtweise des sanktionierten Regimes dar und begründete daraus seine Skepsis gegenüber Wirkungsillusionen, denn betroffene Regimes hätten Lösungen entwickelt, um mit Sanktionen umzugehen. Von hoher Komplexität geprägt war die Sanktionspolitik der Bundesrepublik Deutschland, die FRANK BÖSCH in großen Linien seit 1949 vorstellte. Mögliche Wirtschaftssanktionen gegenüber der DDR und den Staaten des Ostblocks nach dem 17. Juni 1953, dem Ungarn-Aufstand 1956 oder dem Mauerbau 1961 sowie eine konsequente Umsetzung der Hallstein-Doktrin hätten mit den Interessen der exportorientierten bundesdeutschen Wirtschaft in Konflikt gestanden. Ab 1967 sei es zu Diskursverschiebungen durch Proteste gegen Diktaturen gekommen, die von neuen Linken, Gewerkschaften, Medien, Nicht-Regierungsorganisationen und Migrant:innen angeführt worden seien, doch zugleich sei in den 1970er- und 1980er-Jahren eine starke Zunahme des Handels mit Diktaturen festzustellen gewesen, nicht zuletzt in Gestalt des Erdgas-Röhren-Geschäfts mit der Sowjetunion. Schließlich stünden die seit 1989 zu verzeichnenden multinationalen Sanktionen von Europäischer Union (EU) und Vereinigten Staaten gegen die geläufige Annahme von einer stetig zunehmenden Deregulierung und Verflechtung in einer globalisierten Welt. JUTTA BRAUN (Potsdam) stellte Boykotte im internationalen Sport vor, die bereits 1936, vor allem aber im Kalten Krieg zum Tragen gekommen seien. Pointiert urteilte Braun, dass diese Boykotte trotz großer medialer Aufmerksamkeit sich als recht wirkungslos erwiesen hätten und bei Austragungsorten in autoritären Staaten allenfalls zu temporären Schein-Liberalisierungen geführt hätten. JERONIM PEROVIĆ (Zürich) erörterte sowjetische Reaktionen auf westliche Sanktionen im Rohstoffhandel und sprach insbesondere die Erdölleitung „Družba“ an, die gleich mehrere Funktionen erfüllt habe: vom Export des Erdöls in die sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas bis hin zur wirtschaftlichen Erschließung Westsibiriens, in späteren Jahren auch mit mittelbarer Hilfe westeuropäischer Staaten. Dass die Röhren über die politische Zäsur von 1989/91 hinaus bis zum russischen Angriff gegen die Ukraine 2022 Öl nach Westen lieferten, verweise auf die langfristige Wirkungslosigkeit, mithin auf die Fragilität von Sanktionen.

Die Sektionsdiskussion erbrachte in aller Deutlichkeit, dass Sanktionen nur in einem umfassenderen Geflecht von Maßnahmen zu verstehen seien. Entscheidend seien demnach Fragen nach Wirkungsketten und Wirkungseffekten sowie eine Differenzierung nach Rechtsgrundlagen. So seien Einschnitte bei der Versorgung der Bevölkerung und Restriktionen im Technologie-Transfer unterschiedliche Sanktionsziele. Dies war gerade auch deshalb zu betonen, da in Demokratien oft moralischer Druck zu Sanktionen veranlasse; insbesondere Konsumboykotte seien in aller Regel als individuell und medial vermittelter kommunikativer Akt zu verstehen.

Die sorgfältige Herausarbeitung von Sanktionsregimes, die diese Sektion leistete, stellt eine Herausforderung für den seit längerem etablierten historischen Forschungstrend zu Fragen der Sicherheit bzw. der Versicherheitlichung dar. Zukünftige Forschungen könnten sich zudem der Frage widmen, welche Konsequenzen Sanktionsregimes für eine Geschichte der Mobilitäten mit sich bringen. Der Gegenwartsbezug zur außenpolitische Lage schwang in dieser Sektion mit, aber ebenso war deutlich, dass einige der Beiträge auf einem längeren Recherche- und Publikationsvorlauf beruhten. Die Sektion verband so den innerwissenschaftlichen Trend zu einer globalhistorisch, kulturwissenschaftlich und politiktheoretisch erneuerten Geschichte der internationalen Beziehungen mit der zeithistorischen Bearbeitung aktueller Krisendynamiken.

Das Organisationsteam des Historikertags gab dem Gegenwartsbezug auch explizit Raum und hatte gleich mehrere Sektionen zur Lage der Ukraine ins Programm aufgenommen. An dieser Stelle sei die von LILIYA BEREZHNAYA (Münster), STEFAN ROHDEWALD (Leipzig) und ANKE HILBRENNER (Düsseldorf) konzipierte Sektion „Russlands Krieg gegen die Ukraine. Von der Stabilität zurück zur Fluidität der Staatsgrenzen – europäische Geschichte als Scherbenhaufen“ angeführt. Aufgrund mehrerer kurzfristiger Wechsel bei den Referent:innen bestand die Herausforderung, die doch recht unterschiedlichen fachlichen Spezialisierungen, die von der Frühen Neuzeit und der Kirchengeschichte bis zur Politikgeschichte und zum 21. Jahrhundert reichten, zusammenzubringen. STEFAN ROHDEWALD leitete mit grundsätzlichen Überlegungen über die Auflösung des Konzeptes internationaler Grenzen ein, während sich GUIDO HAUSMANN (Regensburg) geographischen Studien und ihrem Einfluss auf die Deutung der ukrainischen Geschichte widmete. Im Vergleich zu den 1920er-Jahren, in der zeitlichen Nähe zum Ersten Weltkrieg und seinen Folgekonflikten mit kurzzeitigen Republikgründungen und Gebietstausch-Überlegungen, konstatierte Hausmann für die Ukraine der 1990er-Jahre eine ähnliche Erfahrung unsicherer Grenzen wie in der Zwischenkriegszeit. CORINNE GEERING (Leipzig) diskutierte Auffassungen von staatlicher Souveränität im Lichte von sowjetischer Vergangenheit und russischem Politikverständnis der Gegenwart. Mit dem Verweis auf Dekolonialisierungsprozesse bezog sie auch eine globale Perspektive ein. NATALIIA SINKEVYCH (München) ging auf die Bedeutung der christlichen Konfessionen für die Bestimmung kultureller und damit oft auch politischer Grenzen in Osteuropa von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart ein, wobei sie den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf die orthodoxen Konfessionen legte.

In einer Podiumsdiskussion zwischen den Vortragenden wurden die unterschiedlichen Vorstellungen von Souveränität ebenso wie daraus ableitbare Thesen zu einem imperialen oder kolonialen Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine vertieft. Wie in den anderen Sektionen stellte sich die für die Zeitgeschichte typische Herausforderung, tagespolitische, quellensprachliche und analytische Begriffe zu unterscheiden. Die anschließende Sektionsdiskussion mit dem Publikum brachte Dissonanzen zutage: Die Fragen betrafen zumeist unabhängig von den Inhalten der Vorträge die aktuelle politische und militärische Situation, aber auch Mythenbildungen, wie etwa ein vermeintliches Verbot der russischen Sprache in der Ukraine. Die Disziplin der Osteuropäischen Geschichte, die über viele Jahre Einsparungen ausgesetzt war, sah sich so mit weitreichenden Erklärungsanfragen konfrontiert. Eine Stärkung ihrer Ressourcen, dies machte die Sektion deutlich, ist unerlässlich.

Eine Erfahrung, die die Sektion zur Ukraine mit der Sektion zum Sanktionsregime gemeinsam hatte, waren Wortmeldungen aus dem Publikum, die für sich eine „Zeitzeugen“-Perspektive beanspruchten. Ad hoc war kaum einzuordnen, welche der geschilderten Begebenheiten tatsächlich neue Erkenntnisse bargen und welche eher Selbstinszenierungen ehemaliger Funktionsträger:innen aus Politik und Wirtschaft zuzuschreiben waren. Umso mehr ist es geboten, die zeitgeschichtliche Forschung zu den letzten Jahrzehnten deutscher Ostpolitik voranzubringen.

Kriege und Krisen der Weltpolitik nahmen bei den zeitgeschichtlichen Sektionen des Historikertags eine prominente Stellung ein, doch gab es auch Sektionen, die gesellschaftliche Krisen thematisierten. Auf großes Publikumsinteresse stieß die Sektion „Missbrauch als Thema der Zeitgeschichte – Perspektiven und Herausforderungen“, die von FRANK KLEINEHAGENBROCK (Bonn), NICOLE PRIESCHING (Paderborn) und JÜRGEN SCHMIESING (Osnabrück) organisiert worden war. NICOLE PRIESCHING stellte in ihrer Einführung die Verbindung zum Motto des Historikertags heraus: Die Erkenntnisse der mittlerweile zahlreichen Missbrauch-Untersuchungen seien besonders fragil, auch aufgrund der Quellen-Überlieferung. Während Kirchen-Akten oft nebulös blieben, wirkten Oral-History-Interviews auf die Betroffenen (re-)traumatisierend. CHRISTINE HARTIG (Paderborn) zeigte am Beispiel des Erzbistums Paderborn ausführlich die Herausforderungen im Umgang mit Oral History-Interviews, nicht zuletzt mit Blick auf geschlechtliche Wahrnehmungen, auf. UWE KAMINSKY (Berlin) vollzog anhand der „Heimerziehung als Missbrauchsraum“ die Linien von der Täter- zur Opferforschung und verwies auf eine Biographisierung als Gegenstrategie gegen das Verschwinden des Individuums. Dass die Interessenlage der Betroffenen oft nicht identisch mit der angestrebten Aufklärung durch die Wissenschaft sei, unterstrich KATHARINA KRACHT (Bremen) in ihrem Kommentar, der sich intensiv mit sprach- und quellenkritischen Fragen auseinandersetzte. Kracht sprach sich sowohl gegen verharmlosende Narrative als auch gegen die so genannte false memory-These aus, wonach falsche Detailschilderung dazu führten, dass der Missbrauch an sich in Frage gestellt werde. MONIKA DOMMANN (Zürich) und MARIETTA MEIER (Zürich) wandten anhand der Pilotstudie „Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz“3 den Blick auf die Probleme von Auftragsforschung, die im Spannungsfeld geforderter Unabhängigkeit sowohl von den Betroffenen als auch von den Auftraggebern und zugleich im größeren Kontext eines gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses stehe. Auf einen solchen Transformationsprozess ging THOMAS GROSSBÖLTING (Hamburg) genauer ein, indem er die soziale Dynamik pastoraler Gewalt vorstellte, die nicht nur Opfer und Täter, sondern auch Unterstützende, Vertuschende, fehlerhaft Aufklärende und sogar Helfende umfasse. Die Katholische Kirche sei dabei – auch im Vergleich zu Missbrauch im Sport, in der Familie und im Erziehungswesen – nicht unbedingt quantitativ ein Hotspot, sehr wohl aber qualitativ aufgrund ihrer Hierarchien, ihres Amtsverständnisses, ihrer Regulierung von Sexualität als „Markenkern“ und ihres männerbündischen Systems. Das Erziehungswesen griff SUSANNE RAPPE-WEBER (Ludwigstein) auf, die dezidiert dem „pädagogischen Eros“ als Rechtfertigung für sexualisierte Gewalt in Jugendbewegung und Reformpädagogik nachging. Mit zahlreichen drastischen Beispielen aus jugendbündischen Zeitschriften, die Rappe-Weber pointiert als teils „kinderpornographisch“ bezeichnete, war die Forderung nach weitergehender Dechiffrierung von Camouflage-Praktiken auch in pädagogischen Texten verbunden.

In der Zusammenschau der Sektion zeigte sich, dass es noch kein einheitliches Forschungssetting gibt, das einen internationalen Vergleich ermöglichen könnte. Dies wäre aber umso nötiger, denn die in der Einleitung zur Sektion formulierte Forderung, die Untersuchung von Missbrauch aus einem binnenkirchlichem Rahmen zu lösen und als Teil deutscher Gewaltgeschichte einzuordnen, wirft einige Fragen auf. Eine Gewaltgeschichte, die als spezifisch „deutsch“ adressiert wird, ist historiographisch eng mit der Geschichte der Weltkriege, zweier Diktaturen und seit einigen Jahren auch mit der Anerkennung des kolonialen Genozids an Herero und Nama assoziiert. Es bleibt näher zu untersuchen, inwieweit diese fundamentalen Gewalterfahrungen auch Dimensionen und Formen des Missbrauchs in Deutschland nach 1945 prägten und worin Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit dem in der Sektion vorgestellten Fall Schweiz, aber auch mit öffentlich stark diskutierten Missbrauchsfällen in Ländern wie Irland oder Schweden liegen. Neben der Gewaltgeschichte ist als längerfristige Linie der Prozess der Säkularisierung zu berücksichtigen, für dessen rasches Voranschreiten in den letzten Jahrzehnten die Missbrauchsfälle wohl nicht alleinige Ursache, aber zweifellos ein Katalysator waren.

Die Sektion kennzeichnete eine dichte Taktung an Vorträgen, die wenig Raum für Nachfragen und Diskussionen ließ. Dafür boten die Sektionsverantwortlichen ein für Historikertage ungewohntes Angebot: eine Gesprächsmöglichkeit mit psychologisch geschulten Fachkräften außerhalb des Hörsaals, das sich an alle richtete, die durch die Inhalte der Sektion belastende persönliche Erfahrungen neu durchlebten. Sollte dieses Beispiel für künftige historische Tagungen ein Fingerzeig sein und lässt sich daraus auf eine „Therapeutisierung“ der Zeitgeschichte als neuem Standard schließen? In jedem Fall wirkt sich eine vielfach gewünschte stärkere Interdisziplinarität nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf Praktiken aus. Das gängige Selbstbild der Zeitgeschichtsforschung, einen nüchtern-kritischen Beitrag zur politischen Diskussions- und Streitkultur zu leisten, wird damit herausgefordert.

Ein zeithistorisch geprägtes Fazit zum Leitthema des Historikertags „Fragile Fakten“ ergibt auf den ersten Blick eine klare Bestätigung: Die Glaubwürdigkeit von Institutionen, Gewissheiten und internationaler Ordnung erodiert, und gleichzeitig zeigt sich eine forschungspraktische Dimension von Fragilität in Gestalt zerstörter Archive (wie im Falle der Ukraine) oder unzugänglicher Archive (wie im Falle vieler Missbrauchs-Fälle). Allerdings verhält es sich bei näherem Hinsehen nicht so eindeutig. Nach wie vor kann sich die Zeitgeschichtsforschung auf hervorragend erschlossene, wenn auch bislang wenig genutzte Quellenbestände stützen, wie in der Sektion zum Sanktionsregime deutlich wurde, und große Anerkennung verdient das innovative Aufspüren neuer Quellen, wie es die Sektionen zur Wissens- und Bildungsgeschichte vorführten. Das skizzierte Spannungsverhältnis zwischen längeren, vorwiegend innerwissenschaftlich begründeten Forschungstrends und der Bearbeitung aktueller Krisendynamiken ist nicht nur für die deutschsprachige Zeitgeschichtsforschung herausfordernd. Es wäre erkenntnisfördernd zu sehen, wie in anderen Ländern mit diesem Spannungsverhältnis umgegangen wird. Deshalb sei zum Schluss dieses Berichts der Wunsch ausgesprochen, dass die Organisationskomitees der nächsten zweijährlichen Großveranstaltungen wieder die mit dem Hamburger Historikertag 2016 ins Leben gerufene Idee eines Partnerlandes aufgreifen mögen.

Anmerkungen:
1 Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2018.
2 Vgl. Klaus Hüfner / Hildegard Hamm-Brücher (Hrsg.), Bildungswesen: mangelhaft. BRD-Bildungspolitik im OECD-Länderexamen, Frankfurt am Main 1973.
3 Vanessa Bignasca / Lucas Federer / Magda Kaspar / Lorraine Odier / Monika Dommann / Marietta Meier, Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts, 2023, https://doi.org/10.5281/zenodo.831577 (11.03.2024).

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